Wenn die Lust am Essen verloren geht

veröffentlicht am 21.05.2015

Die Verunsicherung, was gesunde Ernährung ist, ist allgemein sehr groß, da zahlreiche widersprüchliche Informationen und Diäten auf der einen Seite sowie andererseits ein Überangebot von jederzeit verfügbarem, günstigem Essen die Menschen mit unterschiedlichen Reizen überfluten. Am 20.05.2015 veranstaltete die Suchthilfe Aachen daher einen Informationsabend zum Thema Diäten und gesunde Ernährung. Ziel war es,

  • über verschiedene Diäten aufzuklären,
  • zu verdeutlichen, warum die meisten Diäten erfolglos, manche sogar gefährlich sind,
  • mit gängigen Diät-Mythen aufzuräumen und
  • Tipps für eine gesunde Ernährung zu geben.

Gestaltet wurde der Abend von der Ernährungsberaterin Birgit Stößel und der Suchttherapeutin Ruth Schwalbach. Lesen Sie hier einige Aspekte zum Vortrag in der Zusammenfassung:

Besonders beliebt sind gerade verschiedene Formen der Stoffwechseldiät (Max Planck-Diät, Blutgruppendiät etc.) sowie verschiedene Formen der low carb-Diäten, z.B. die Dr. Atkins-Diät. Zunächst bringen diese vielleicht auch Erfolge mit sich, auf lange Sicht aber bei vielen – nicht allen – Menschen große Nachteile, Nebenwirkungen und Risiken.

Stoffwechseldiäten
Mit Hilfe bestimmter Lebensmittel soll der Stoffwechsel angeregt werden, damit der Körper mehr Energie verbraucht und Fett verbrennt. Der Diätplan ist wenig abwechslungsreich, restriktiv und mager. Nicht nur Kohlenhydrate, also Lebensmittel mit Zucker, sind bei der Stoffwechseldiät tabu, sondern ebenfalls Salz und Alkohol. Nur wer sich an den strikten 2-Wochen-Plan hält, kann auf (kurzfristigen) „Erfolg“ hoffen.
Der Diätplan besteht aus drei Mahlzeiten und ist für jeden Tag klar strukturiert. Das Frühstück fällt in der Regel sehr mager aus: ein trockenes Brötchen oder Karotten mit Zitronen – mehr ist nicht erlaubt. Dazu gibt’s schwarzen Kaffee oder auch Tee mit Zitrone. Mittags befindet sich natürlich Essen ohne Kohlenhydrate auf dem Teller: zwei gekochte Eier und Spinat oder Steak und Salat, gedünsteter Fisch und Tomaten oder gegrilltes Huhn mit Gemüse. Je nachdem, was es zu Mittag gab, fällt das abendliche Mahl etwas weniger oder mehr opulent aus: gekochte Eier und Karotten, Steak mit Salat, Naturjoghurt oder gekochter Schinken und Salat – im Grunde genommen eine Wiederholung der anderen Mahlzeiten.

Nach der Diät sind Heißhungerattacken und der bekannte Jojo-Effekt vorprogrammiert. Hinzu kommt, dass die einseitige und die ausschließlich eiweißreiche Ernährung gesundheitliche Folgen haben können, wie zum Beispiel Mangelerscheinungen oder Nierenschaden.

Low carb-Diäten
„Low carb“ bedeutet wenig Kohlenhydrate. Auf wie viele Kohlenhydrate verzichtet wird, unterscheidet sich zwischen den unterschiedlichen Diätformen. Hierzu gehören z.B. die Hollywood-Star-Diät oder die South Beach-Diät. Meist dürfen zu Beginn keine, später einige wenige Kohlenhydrate zu sich genommen werden. Die extremste – und umstrittenste – ist die Dr. Atkins-Diät, bei der gänzlich auf Kohlenhydrate verzichtet wird. Durch den Verzicht soll der Blutzucker konstant, die Insulinausschüttung niedrig und der Fettabbau damit hoch gehalten werden. Ein Tag nach dem low carb-Prinzip könnte daher beispielsweise so aussehen: Frühstück: 2 Eier, Tomate und Schinken, Tee und Kaffee. Mittags: je 200 g Salat und Steak, kein Brot! Snack: Tofu, Obst. Abendessen: 400 g Spinat mit Schafskäse, Zwiebel und Nüssen.

Auch hier treten nach der Diät häufig Nebenwirkungen wie Heißhunger- und Essattacken auf. Es kann zu Fettstoffwechselstörungen, Vitamin- und Ballaststoffmangel kommen. Die erhöhte Fettzufuhr birgt zudem das Risiko –  insbesondere für Menschen mit Herz- und Kreislauferkrankungen, Schwangere und Ältere – dass das viele Fett die Arterien verstopft. Die hohe Eiweißzufuhr soll auch für Menschen mit Nieren- und Leberproblemen bedenklich sein, Gicht könnte schlimmer werden. Abgesehen davon können Kopfschmerzen, Muskelkrämpfe, Mundgeruch und Übelkeit auftreten. Die Erfahrung in der Beratungsstelle für Essgestörte der Suchthilfe Aachen zeigt zudem, dass Magersucht schnell voran getrieben und extrem werden kann, dass Buli-mie oder Binge-Eating-Disorder mit Fressattacken folgen können.

Selfish-brain-Theorie
Es gibt Menschen, die sagen, dass der Körper sich an Diäten, wie die low carb-Diät, gewöhnen kann und der Körper dann Kohlenhydrate auch nicht mehr einfordert. Demgegenüber steht die anerkannte Selfish-Brain-Theorie des Lübecker Adipositas-Spezialisten und Diabetologen Achim Peters. Die Theorie besagt, „dass sich das Gehirn selbstsüchtig verhält, insofern es die Energieversorgung des Körpers so lenkt, dass es zunächst einmal sich selbst Energie zuweist, ehe die Bedürfnisse der ande-ren Organe befriedigt werden. Der Eigenbedarf des Gehirns ist sehr hoch. Obwohl seine Masse nur 2 Prozent des Körpergewichts ausmacht, verbraucht es etwa zwei Drittel der täglich zugeführten Kohlenhydrate (Glucose).“ (Wikipedia)
Vereinfacht formuliert heißt das: Das Gehirn fordert Glucose ein. Der Bauch reagiert mit Hunger, man isst… aber eben keine Kohlenhydrate sondern für das Gehirn das Falsche. Die Lust auf Glucose bleibt und es folgen Heißhungerattacken. Das fördert ungünstigs-tenfalls Essstörungen wie Binge-Eating-Disorder oder Bulimie. Weitere Details zu dieser Theorie können Sie in einem Artikel der Zeit nachlesen.

Wenn die Lust am Essen verloren geht
„Das Grundproblem aller Diäten ist, dass sie nicht an den Ursachen für Gewichtsprobleme ansetzen“, erklärt Birgit Stößel. Das bedeutet, Menschen, die sich für Diäten entscheiden, reflektieren nicht, wann sie essen oder nicht-essen als Bewältigungsstrategie für Probleme, Stress oder Langeweile einsetzen. Auch das unbewusste, emotionale Essen wird nicht individuell erforscht, sodass Diäten nur kurzfristig wirken können, aber nicht den gesamten Ernährungs- und Lebensstil beeinflussen.
Stattdessen regeln sie kurzfristig die Ernährung und teilen in erlaubten und unerlaubten Lebensmitteln ein. Der Genuss und der Spaß am Essen bleiben auf der Strecke. Geschürt werden das schlechte Gewissen und das Gefühl, zu versagen. „97% der Diäten scheitern – und müssen auch scheitern – damit der enorme Industriezweig, der dahinter steckt, dauerhaft verdient und seine Gewinne maximieren kann“, erläutert Ruth Schwalbach. „Einer Studie zufolge sind wir wöchentlich 2000 – 5000 bearbeiteten Bildern in den Medien ausgesetzt, die uns vorgaukeln, dass wir nicht richtig sind. Der Körperfetischismus kippt schnell um in einen Köper- und Selbsthass, von dem längst nicht mehr nur Mädchen und junge Frauen betroffen sind. Zunehmend entwickeln auch Männer und Kinder verschiedene Formen von Essstörungen. Daher sind Diäten eine Art Einstiegsdroge für Essstörungen, wie Magersucht, Bulimie und Binge Eating Disorder. Wir bekommen bei der Suchthilfe täglich E-mails von Betroffenen, die nach Diäten in einen suchtähnlichen Teufelskreis geraten sind. Einer Studie zufolge reichen schon drei Diäten aus, als das eine Essstörung droht.“ Eine dieser E-Mails haben wir von folgender Betroffenen bekommen, dass wir hier netterweise anonym veröffentlichen dürfen:

Ein Fallbeispiel
„Ich bin 24 Jahre alt und leide seit 8 Jahren an Essstörungen. Es begann alles, als ich mir mit 16 Jahren vorgenommen hatte, ein paar Kilos abzunehmen. Aus den anfänglichen Kilos wurden immer mehr, bis ich irgendwann stark untergewichtig war und fast nichts mehr an Lebensmitteln zu mir nahm. Es verging ungefähr ein Jahr, in dem ich nur damit beschäftigt war, meine Kalorien zu zählen, mich von meiner Umwelt isolierte und so gut wie nichts aß. Mit der Zeit bekam ich dann zwischenzeitlich immer mal vereinzelt Essanfälle. Bei diesen Essanfällen stopfte (bitte entschuldigen Sie die Ausdrucksweise, aber sie beschreibt es am besten) ich alles in mich hinein bis zur absoluten Übelkeit. Anschließend plagten mich Schuldgefühle und Ekel. Um einer Gewichtszunahme entgegenzuwirken nahm ich Abführmittel und aß an dem darauffolgenden Tag nichts. Es begann ein Teufelskreis … einen Tag lang Essanfälle, den nächsten Tag nichts essen… Von Zeit zu Zeit nahmen die Essanfälle immer mehr zu und ich nahm in kürzester Zeit massig an Gewicht zu. Die Essanfälle begleiten mich seitdem. Es gibt Zeiten, in denen es ein bisschen besser ist und dann gibt es Zeiten, in denen es wieder schlechter ist… Seit den letzten zwei Jahren ist es wieder schlim-mer… Jede Woche kommt es zu mindestens zwei Essanfällen. Ich nehme mir täglich eine bestimmte Tagesration an Essen vor, um wieder schnellstmöglich abzunehmen. Seitdem ich damals so zugenommen habe, fühle ich mich unwohl in meinem Körper und möchte abnehmen. Ich schreibe mir vor, wie viel ich bis wann abgenommen haben möchte, doch immer wieder verfalle ich den Essanfällen…
Ich weiß, dass ich mich in einem Teufelskreis befinde und möchte diesen gerne durch brechen und wieder ein normales Essverhalten und einen normalen Bezug zu meinem Körper bekommen, nur alleine schaffe ich es einfach nicht.
Ich weiß nicht, ob Sie weiterhelfen können… Ich würde mich auf jeden Fall über eine Rückmeldung von Ihnen sehr freuen.“

Diäten im Vorfeld genau prüfen
Wer jedoch wirklich übergewichtig ist und vom Arzt den Hinweis bekommt, abnehmen zu müssen, sollte das Abnehmprogramm gut checken, bevor es losgeht. Hier finden Sie dazu eine Checkliste für Diätprogramme. Weitere Informationen finden Sie im Kapitel „Flexibel statt ridige essen“.

Lust auf gesunde Ernährung angeboren
Grundsätzlich hat der Mensch ein natürliches Bedürfnis, sich gesund zu ernähren, bestimmte Lebensmittel und Lebensmittelkombinationen zu sich zu nehmen. Dieses Bedürfnis haben aber viele durch das Überangebot an Lebensmittel und die ständige Verfügbarkeit verloren. Obst und Gemüse gibt es immer und nicht mehr wie früher zu einer bestimmten Saison, überall riecht es köstlich, Lebensmittel werden absichtlich drapiert, um zum Kaufen zu überreden, wir werden ständig von Fast Food angelockt, die Angebote der Lebensmittel werden durch Werbung und food designte Nahrungsmittel und Verpackungen immer geschickter… Ein gesundes Essverhalten müssen viele also erst wieder erlernen.

Flexibel statt rigide essen
Statt eines rigiden Essverhaltens empfehlen Ruth Schwalbach und Birgit Stößel ein flexibles Essverhalten. Das bedeutet, dass zunächst (wieder) das Urbedürfnis „Hunger – Essen – satt“ erlernt werden muss, ähnlich wie es ein Säugling empfindet. Folgende Fragen müssen dazu beantwortet werden:

  • Wann habe ich eigentlich wirklich Hunger?
  • Wann esse ich nur aus Gewohnheit, Langeweile, Frust?
  • Wann bin ich satt?
  • Wie fühlt sich satt an?
  • Worauf habe ich Lust zu essen und warum?

Ziel ist ein „achtsames essen“, das z.B. mit folgender Rosinen-Übung wieder erlernt werden, bzw. geschult werden kann.

Wenn ich Antworten auf die o.g. Fragen gefunden habe, geht es darum, ein gesundes Ernährungsverhalten mit einer ausgewogenen Kost zu lernen. Hier ist nichts verboten, sondern alles hat seinen Platz – aber in Maßen. Empfohlen wird eine Ernährung nach der Ernährungspyramide der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Ernährt man sich nach dieser Pyramide was die Auswahl der Lebensmittel und die Por-tionsgröße betrifft, kann es weder zu Mangelerscheinungen noch zu Übergewicht kommen. Auch Proteinshakes, wie sie häufig von jungen Menschen zum Muskelaufbau genutzt werden, sind damit überflüssig.

Hilfe bei Essstörungen
Wer Fragen zum Thema hat ist herzlich in unserer offenen Sprechstunde willkommen. Unsere Zeiten und Kontaktdaten lauten:

Sprechstunden
montags 15.00 – 17.00 Uhr:
0241-4134487210
Kristina Latz
latz@suchthilfe-aachen.de
donnerstags, 13.30 – 15.30 Uhr:
0241-41356133
Ruth Schwalbach
schwalbach@suchthilfe-aachen.de