Das Thema „Suchterkrankungen“ im Zusammenhang mit der Bundestagswahl 2017

veröffentlicht am 20.09.2017

Forderungen des Gesamtverbandes für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland, Stand 06.07.2017

Der Bedeutung von Suchterkrankungen Rechnung tragen
Für die Betroffenen und ihre Angehörigen, insbesondere für Kinder aus suchtbelasteten Familien, sind Suchterkrankungen mit massivem Leid verbunden und führen oft zu gravierenden Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben und zu erheblichen gesundheitlichen Belastungen. Hinzu kommen erhebliche volkswirtschaftliche Auswirkungen mit z.B. rund 40 Mrd. € für die Folgen des Alkoholkonsums in Deutschland. Die Berücksichtigung der besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Suchterkrankungen ist in allen Bereichen der Gesellschaft verbunden mit einer konsequenten Entstigmatisierung auf individueller und struktureller Ebene. Besonders notwendig scheint hier die Entkriminalisierung von Cannabiskonsumenten. Die Schaffung passender politischer Rahmenbedingungen, um die Selbstbestimmung und Selbstverantwortung von Menschen mit Suchterkrankungen sind zu unterstützen und deren Beteiligung an medizinisch- und rehabilitationsbezogenen Entscheidungen sicherzustellen. Soziale und berufliche Teilhabe ist dabei die zentrale Ausrichtung. Die Bereitstellung der erforderlichen Ressourcen für ein umfassendes System von medizinischen, psychologischen und sozialen Suchthilfen und einer koordinierten Versorgung in der Region unter Einbeziehung der Selbsthilfe ist dabei von entscheidender Bedeutung.

Suchterkrankungen vorbeugen
Angesichts des demografischen Wandels und der rapiden Veränderungen in der Arbeitswelt kommen dem Erhalt der seelischen Gesundheit und der Unabhängigkeit von Suchtmitteln und süchtigen Verhaltensweisen eine zentrale Rolle zu. Die Wirksamkeit präventiver Interventionen bei Suchtstörungen ist wissenschaftlich belegt – sie können etwa die Neuerkrankungsraten deutlich reduzieren, ein gutes Beispiel ist dafür die Vorbeugung der Tabakabhängigkeit. Eine Mischung aus verhaltensbezogenen individuell ausgerichteten Präventionsprogrammen und verhältnispräventiven Maßnahmen (Preiserhöhungen, Verbot von Außenwerbung, effektiver Jugendschutz usw.) ist hier ein erfolgsversprechender Ansatz. Die Fachkräfte in der Suchthilfe sind auch die Experten für die Suchtprävention. Das Präventionsgesetz gibt die Gesundheitsziele „Tabakkonsum und Alkoholkonsum in der Allgemeinbevölkerung reduzieren“ vor. Dazu sind der Erhalt und die Absicherung der ambulanten Versorgungsstrukturen in den Regionen sowie der vorhandenen Präventionsfachstellen sind von großer Wichtigkeit. Die stärkere Beachtung psychosozialer Risikofaktoren, insbesondere auch in der betrieblichen Gesundheitsförderung, muss dabei im Vordergrund stehen.

Menschen mit Suchterkrankungen behandeln
In Deutschland nehmen immer mehr Menschen medizinische Leistungen aufgrund von psychischen Erkrankungen, insbesondere von Suchterkrankungen, in Anspruch. Eine psychische oder verhaltensbezogene Störung durch Alkohol ist die dabei die zweithäufigste Hauptdiagnose in Krankenhäusern, unter diesen Patienten sind auch etwa 22.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 19 Jahre. So sind die Behandlungsbedarfe sehr hoch, aber die Angebote zur fachgerechten Behandlung von Suchterkrankungen sind lückenhaft oder nur schwer zu erreichen.

Das Versorgungssystem muss darauf reagieren und dabei den besonderen Bedürfnissen dieser Patientengruppen Rechnung tragen. So hat zum Beispiel der „Qualifizierte Entzug“ in einem Krankenhaus und der anschließende nahtlose Übergang in weiterführende therapeutische Maßnahmen (Rehabilitation, Nachsorge, Selbsthilfe) hat bei Suchterkrankungen eine sehr große Bedeutung.

Auch in der ambulanten Versorgung besteht großer Handlungsbedarf: die ambulante Grundversorgung Sucht im Rahmen der kommunalen Daseinsfürsorge muss aufgrund der immer schlechter werdenden Bedingungen durch kommunale Grundfinanzierungen dringend abgesichert werden. Diese zentrale und koordinierende Schnittstelle in der Suchtkrankenversorgung vor Ort muss dringend gestärkt werden. Im Bereich der medizinischen Rehabilitation suchtkranker Menschen kann aktuell von einem ‚Kliniksterben’ in der Suchtrehabilitation gesprochen werden: seit rund 5 Jahren häufen sich die Meldungen über Schließungen, Bettenreduzierungen und Zusammenlegungen. Auch die ambulante Form der medizinischen Rehabilitation steht massiv unter Druck, auch hier drohen Schließungen der Facheinrichtungen. Diese Entwicklungen müssen dringend gestoppt werden,

Unter der Überschrift „Suchthilfe“ finden wir ein funktionierendes und erfolgreiches System mit vorbeugenden, beratenden, behandelnden und nachsorgenden Angeboten. So wird eine differenzierte Versorgung sicherstellt und individuelle wie umfeldorientierte Optionen mit einer großen Bandbreite von Abstinenzorientierung bis hin zu Harm-Reduction ermöglicht. Dies bedeutet auch, dass beim „Faktor Mensch“ immer auch einer psychosozialen Verortung Rechnung getragen werden muss.

Forderungen der GVS:

  • Sicherstellung, Weiterentwicklung und Finanzierung der flächendeckenden, leitliniengerechten, ambulanten und stationären Versorgung von Menschen mit Suchterkrankungen – insbesondere auch von Menschen mit seelischen Behinderungen, die mit schweren und chronischen Suchterkrankungen verbunden sind.
  • Angemessene Finanzierung der ambulanten Grundversorgung Sucht im Rahmen der kommunalen Daseinsvorsorge (Suchtberatungsstellen).
  • Schaffung eines gesetzlichen Rahmens für eine sektorenübergreifende Vernetzung aller beteiligten Berufsgruppen zur Förderung strukturierter, passgenauer, nachhaltiger und bedarfsgerechter Versorgungsangebote in der Suchthilfe.
  • Verpflichtung der Rehabilitationsträger in der medizinischen Rehabilitation Suchtkranker, die Inhalte der Verträge sowie Rahmenverträge mit den Arbeitsgemeinschaften der Rehabilitationsdienste und -einrichtungen zu vereinbaren (§ 21 SGB IX). Dies umfasst auch Grundsätze zur Vereinbarung von Vergütungen. Das Vergütungssystem muss neben den Betriebskosten auch die Investitionskosten der Leistungserbringer sowie Anpassungen der Mitarbeitervergütungen entsprechend der jeweils vereinbarten tarifvertraglichen Vergütungssätze berücksichtigen.
  • Einrichtung von Schiedsstellen im SGB VI bzw. SGB IX analog zur Regelung § 111b SGB V (Landesschiedsstellen für Reha im Bereich der GKV).

Umfeldorientierung – Suchtkranke Familien im Blick haben
In Deutschland leben derzeit ca. 2,6 Millionen Kinder unter 18 Jahren mit mindestens einem suchtkranken Elternteil. Kinder und Jugendliche, die in Familien mit suchtkranken Eltern aufwachsen, sind in vielfältiger Weise durch die elterliche Erkrankung betroffen. Sie sind mit einer immensen Zunahme an alltäglichen Anforderungen, Konflikten und Spannungen sowohl innerhalb der Familie als auch im sozialen Umfeld konfrontiert. Dies macht Kinder und Jugendliche suchtkranker Eltern zu einer Gruppe, die in besonderem Maße gefährdet ist, eine eigene Suchterkrankung, psychische Erkrankung oder Verhaltensauffälligkeiten zu entwickeln. Gleichzeitig wird erstaunt festgestellt, wie sich betroffene Kinder trotz derart ungünstiger Bedingungen oft gesund entwickeln, wenn sie nur genügend Unterstützung erfahren. Um das Risiko für Kinder und Jugendliche suchtkranker Eltern zu mindern, ist es deshalb notwendig, dass die unterschiedlichen Hilfesysteme diesem Personenkreis eine besondere Beachtung und differenzierte Angebote zukommen lassen. Nicht nur im Interesse der Kinder benötigen darüber hinaus suchtkranke Eltern Unterstützung, Ihre Elternkompetenz trotz ihrer Suchterkrankung wahrnehmen und weiterentwickeln zu können.

Forderungen des GVS:

  • Schaffung von Rahmenbedingungen, die Kooperation und Vernetzung von Jugendhilfe sowie Suchtkranken- und Suchtselbsthilfe sichern. Beide Hilfesysteme sollten verbindliche Vereinbarungen miteinander treffen, die Schnittstellenarbeit muss refinanziert werden.
  • angemessene Betreuung und Entlastung von Kindern und Jugendlichen suchtkranker Eltern.
  • Beratung und Behandlung suchtkranker Eltern zur Stärkung in ihrer Elternrolle und der Förderung der Elternkompetenz.

Gesellschaftliche Teilhabe für Menschen mit Suchterkrankungen sicherstellen
Mit dem in 2016 novellierten Sozialgesetzbuch IX wird den Sozialversicherungszweigen als gemeinsame Aufgabe die Teilhabesicherung zugewiesen. Das Bundesteilhabegesetz bringt weitreichende Veränderungen und eröffnet Handlungsoptionen für die Leistungserbringung. Sie sollte sich an der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben im Allgemeinen und am Erwerbs- und Berufsleben im Besonderen ausrichten. Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen mit einer Suchterkrankung muss hierbei einbezogen und gestärkt werden.

Die gegenwärtige Arbeits- und Erwerbssituation von Menschen mit schweren Suchterkrankungen ist kritisch. Mehr als jede(r) zweite Betroffene geht keiner Arbeit nach, nur ein sehr geringer Anteil der seelisch behinderten suchtkranken Menschen ist in Voll- oder Teilzeitarbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt integriert. Ein großer Teil von Langzeitarbeitslosen ist suchtkrank. Die Integration in den ersten Arbeitsmarkt gelingt mit den gegenwärtigen Förderungsinstrumenten nicht ausreichend. Deutschland hat Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen und Behinderungen, insbesondere mit schweren Suchterkrankungen, bei der Umsetzung der UN- Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) bislang zu wenig berücksichtigt.

Forderungen des GVS:

  • Verbesserung der politischen Rahmenbedingungen für den Einsatz von gezielten Maßnahmen zur Integration von langzeitarbeitslosen Menschen mit Suchterkrankungen in den Arbeitsmarkt.
  • Auf- und Ausbau von Arbeitsgelegenheiten für alle suchtkranke Menschen, die für den 1. Arbeitsmarkt (noch) nicht geeignet sind.
  • De einrichtungs- und trägerbezogene Kooperation und Vernetzung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente mit sozialintegrativen und gesundheitsförderlichen (kommunalen) Angeboten im Rahmen einer ganzheitlich ausgerichteten Integrationsstrategie für arbeitslose suchtkranke Menschen ist eine entscheidende Grundlage in der dringend erforderlichen Vernetzungsarbeit. Sie umfasst neben der Suchtberatung vor Ort auch den bedarfsgerechten Einbezug weiterer kommunaler Eingliederungsleistungen, z.B. Kinderbetreuung, Schuldnerberatung, psychosoziale Betreuung, Angebote der Gesundheitsförderung, Angebote von Bildungsträgern.

Gesamtverband für Suchthilfe e. V. – Fachverband der Diakonie Deutschland

  • vertritt die Interessen der diakonischen Suchthilfe in der Öfentlichkeit und in der Politik
  • informiert üer die Themen Sucht, Suchthilfe, Drogen und Präention
  • bietet Fort- und Weiterbildung an, die Qualitä und Qualifikation sichern
  • hät den Verbandsmitgliedern eine Plattform zum fachlichen Austausch, zurWeitergabe von wichtigen Informationen aus dem politischen und sozialrechtlichen Bereich und unterstüzt sie in ihrer Verbandspolitik

Zusammen mit seinen Mitgliedseinrichtungen arbeitet der 1957 gegründete Verband auf der Grundlage eines gemeinsamen christlichen Leitbildes an dem Ziel, die Situation suchtkranker Menschen in Deutschland zu verbessern. Der GVS hat den Anspruch, sich der aktuellen Politik in der Suchthilfe zu stellen und hier aktiv gestaltend mitzuarbeiten. Er sucht die Nähe zu den fachlich zuständigen Politikern und Politikerinnen und versteht seine Arbeit auch als Lobbyarbeit im Interesse der suchtkranken Menschen in unserem Land.

Kontakt:
Gsamtverband für Suchthilfe e.V. – Fachverband der Diakonie Deutschland Invalidenstr. 29 • 10115 Berlin • Tel. 030/ 83001 500 • Fax 030/ 83001 505 • gvs@sucht.org • www.sucht.org

 

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