Impuls 16 in Zeiten von Corona

veröffentlicht am 25.01.2021

Sehr geehrte Damen und Herren,

in unserem 16. Impuls in Zeiten von Corona wird es etwas persönlicher. Ich möchte Ihnen von meinen Erfahrungen des Jahresabschlusses erzählen und dem, was ich daraus versuche, zu machen. Vielleicht findet sich die ein oder der andere ja in meinen Gedanken wieder…

Ich bin ein totaler Silvestermensch und liebe es, viele Bräuche aus aller Welt anzuwenden, um das alte Jahr zu verabschieden und das neue herzlich willkommen zu heißen. Wenn einer alle Silvesterrituale kennt, dann ich 🙂 : Von putzen, Betten beziehen, Altglas wegbringen und Müll raus („keinen Schmutz aus dem alten Jahr mit rüber nehmen“), über 12 Trauben zu jedem Glockenschlag zu Mitternacht essen (spanischer Brauch) bis hin zur roten Unterwäsche für das Glück in der Liebe (adaptiert aus Italien). Ich esse Linsen (macht man in Italien oder auch in Ungarn), um Geldsegen zu erhalten und verschenke das griechische Basiliusbrot an meine Freunde. In das Brot backe ich eine Münze mit ein. Wer die Münze findet, darf auch bei diesem Brauch auf Reichtum im neuen Jahr hoffen…

Beim letzten Jahreswechsel hatte ich jedoch zum ersten Mal das „ärm dier“ – wie man in Aachen sagt. Für alle Nicht-Aachener:

Das ärm dier ist eine ganz bestimmte, schwer beschreibbare Stimmungslage, die nur Rheinländer wirklich (er-)kennen. Es ist irgendwie eine Mischung aus trübsinnig, melancholisch, traurig und schlecht drauf sein. Man hadert ein bisschen mit sich und der Welt, wobei die generelle Zuversicht auf keinen Fall verloren geht. Oft weiß man gar nicht genau, warum man das ärm dier hat und was es einem gerade so schwermacht. So war es auch bei mir. Denn meine Rückschau auf das letzte Jahr fiel durchaus positiv aus, auch wenn einiges durch Corona durcheinandergewirbelt wurde. Aber im Großen und Ganzen war es ein gutes Jahr – auch weil ich mich weigere, Corona so viel Macht zu geben, mir ein ganzes Lebensjahr zu vermiesen. Ich glaube, ich habe Silvester einfach genau diese beschriebenen Rituale vermisst. Denn zu einigen hatte ich schlicht keine Lust (z.B. Fenster putzen) und andere konnte ich nicht richtig zelebrieren, weil mir meine Freunde und das Fest fehlten.

Wie sehr man seine persönlichen Rituale verinnerlicht hat, merkt man meist erst dann, wenn sie ausfallen oder gerade nicht umsetzbar sind.

Genau so ging es mir. Plötzlich war alles irgendwie anders und fühlte sich nicht richtig an.

Was sind Rituale und warum sind sie so wichtig?

Meine Silvestererfahrungen bringen mich dazu, noch ein bisschen mehr über Rituale und ihre Bedeutung nachzudenken.

Rituale sind Ankerpunkte im Leben, die Stabilität und Struktur geben und dabei helfen, Tage, Wochen oder ganze Jahre in ein geregeltes System zu unterteilen. Rituale geben uns ein Gefühl der Sicherheit. Es sind Situationen, die wir selbst kontrollieren, die wir im Griff haben, in- und auswendig kennen, und uns damit wenig Energie kosten. Keine Neuheiten, kein Stress, keine Veränderung, keine Herausforderung, auf die wir reagieren oder an die wir uns anpassen müssen. Und trotz ihrer Vorhersehbarkeit werden Rituale wieder und wieder als etwas Besonderes erlebt. Genau deshalb helfen sie uns – auch und gerade – in schwierigen und stressigen Zeiten, weil sie das Leben vorhersehbarer, kontrollierbar und damit gefühlt einfacher machen.

Mir wird klar, dass Corona uns allen erstmal ganz schön viele Rituale und Routinen genommen hat, was vielleicht genau einen Teil der gerade erlebten Unsicherheit ausmacht. Durch Homeoffice und Homeschooling hat sich der Alltag mit seinen gewohnten Abläufen verändert, Feste können nicht mehr wie gewohnt gefeiert werden, das Lieblingsurlaubsland nicht bereist werden…

Die amerikanische Ritualforscherin Barbara Fiese hat die Botschaft der Rituale in drei Sätzen zusammengefasst: „Das sind wir. Das ist richtig. Und so wird es bleiben.“

Rituale bedeuten also „immer das gleiche“ und geben uns damit Identität und Heimat. Mit jedem „durch Corona ist gerade alles anders als sonst“ wächst die Sehnsucht nach Beständigkeit und dem, worauf man sich verlassen kann. „Wandel und Veränderungen sind durch Rituale leichter zu ertragen und sind für die meisten ein wichtiges Sicherheitsnetz“, erklärt die Psychologin Meike Watzlawik von der Technischen Universität Braunschweig. Aber was tun, wenn nun die gewohnten Rituale wegfallen? Neue müssen her! Nur so können wir unser Corona-geprägtes Leben aktiv gestalten, nutzen und diese Zeit nicht nur einfach überstehen.

Welche Rituale in stressigen Zeiten hilfreich sein können

Zunächst hilft es, sich darüber im Klaren zu sein, welche eigenen Rituale man so hat, auf welche man gerade verzichten muss und für welche man dringend neue braucht. Das Ergebnis ist sicher bei jedem ein anderes, aber wichtig ist es, aktiv neue Strukturen zu suchen und einzustilen – und das nicht nur für sich alleine, sondern gegebenenfalls auch für die Kinder und die gesamte Familie. Denn laut der Autorin Julia Roth sind Rituale „überlebenswichtig für ein wohltuendes Familienklima“.

Rituale am Morgen
Wie sieht Ihr Start in den Tag aus und was können Sie tun, um diesen zu verbessern?

Wie wäre es vielleicht hiermit?

  • Wenn Sie mit Hilfe eines Weckers wach werden, dann wählen Sie einen mit einem angenehmen Ton oder vielleicht auch mit ihrer Lieblingsmusik.
  • Dehnen und recken Sie sich erstmal langsam im Liegen, bevor Sie die Augen öffnen und aufstehen. Strecken Sie sich, die Arme weit über den Kopf nach oben, um sich selbst so groß wie möglich zu machen. Denn laut der Harvard-Psychologin Amy Cuddy ist dies ein ganz simpler Trick, um besser in den Tag zu starten und sich selbstbewusster, leistungsfähiger und stärker gewappnet zu fühlen. Dahinter steckt ein mächtiger Effekt, das sogenannte Biofeedback. Oder anders formuliert: Unsere Körpersprache beeinflusst unsere Emotionen und unser Denken. Sie kennen das: Wer nervös ist, schaut zu Boden, wer unsicher ist, zieht die Schultern ein und macht sich möglichst klein. Das Ganze funktioniert aber auch umgekehrt. Andere Haltung, aufrechte Position – schon fühlen wir uns selbstbewusster. Weil aber viele Menschen zusammengerollt schlafen und sich dabei klein machen, sieht die Psychologin darin einen Auslöser für Stress und Frust am Morgen.
  • Öffnen Sie die Vorhänge oder ziehen Sie die Rollladen hoch. Vielleicht öffnen Sie das Fenster, um die frische Luft und das Licht zu genießen und erstmal den Blick ein bisschen schweifen zu lassen.
  • Machen Sie sich ein paar Gedanken zum Tag – wenn Sie Zeit dazu finden, schreiben Sie diese gerne auf: Was wird er Ihnen wohl bringen? Was erwarten Sie Positives? Worauf freuen Sie sich? Wofür wollen Sie heute dankbar sein?

Rituale im Homeoffice
Wer von Ihnen gerade von zu Hause aus arbeitet, weiß, dass auch hier ganz viele Routinen wie der Weg zur Arbeit, die erste Tasse Kaffee mit einem kleinen Plausch oder gemeinsame Pausen mit den Kollegen wegfallen. Um dauerhaft seelisch gesund im Homeoffice zu bleiben, achten Sie auch hier auf neue Gewohnheiten.

  • Eine Kollegin von mir geht morgens beispielsweise immer eine kleine Runde um den Block, um das Gefühl des Weges zur Arbeit zu simulieren.
  • Wenn Sie sonst morgens mit einem Kaffee und einem Gespräch mit Kollegen starten, dann verabreden Sie sich doch auch jetzt per Videotool dazu. Ein paar Minuten vor Dienstbeginn kann so noch etwas gequatscht werden.
  • Planen und halten Sie Pausen inklusive Essen gut ein.
  • Entwickeln Sie ein Feierabend-Ritual. Vielleicht können Sie die Türe hinter sich schließen. Wenn das nicht geht, weil Sie z.B. im Wohnzimmer arbeiten, dann kann auch ein Satz wie „So, jetzt ist Feierabend.“ oder das Abdecken des Laptops und der Unterlagen helfen. Oder Sie machen einen Spaziergang – irgendwie müssen Sie ja auch wieder nach Hause kommen J – und vor allem, um abzuschalten.

Rituale am Abend
Was morgens funktioniert, gilt auch für den Abend. Vielen Menschen fällt es schwer, am Abend wirklich abzuschalten, zur Ruhe zu kommen und erholsamen Schlaf zu finden. Das ist jedoch wichtig, um mit herausfordernden Situationen gut umgehen zu können. Stellen Sie sich daher auch hier die Frage, was Ihnen helfen könnte, um runterzukommen. Versuchen Sie es z.B. mit

  • beruhigender Musik,
  • gemütlichem Licht,
  • einer kleinen Mediation oder Atemübung oder
  • einem warmen Getränk. Verzichten Sie dabei auf Alkohol. Denn manchmal hilft dieser vielleicht beim Einschlafen, aber das Durchschlafen gelingt nicht so gut wie nüchtern. Alkohol vermindert nämlich die Schlafqualität.
  • Lesen Sie ein paar Seiten in einem Buch (kein Fachbuch). Denn laut einer Studie der Uni Essex können schon sechs Minuten Lesen pro Tag den Stresslevel um bis zu 68 Prozent verringern.
  • Verbannen Sie Handy, Tablett und alle anderen Lichtquellen mit kaltem Licht. Denn diese zerstören das Schlafhormon Melatonin in uns.
  • und ganz wichtig: Beenden Sie den Tag mit einem Glückstagebuch oder Glücks-Momente-Glas. Beides haben wir Ihnen bereits im 2. Impuls vorgestellt. (https://www.suchthilfe-aachen.de/2020/03/30/impuls-2-in-zeiten-von-corona-2/). Dieses Ritual bewirkt, dass wir den Blick bewusst auf das Schöne am Tag lenken. So lernen wir, den kleinen Dingen im Leben mehr Aufmerksamkeit zu schenken, unsere Gefühle positiv zu beeinflussen und optimistischer einzuschlafen.

Übrigens: Mein Glücks-Momente-Glas hat mir geholfen, mein ärm dier gleich am Neujahrsmorgen wieder zu verbannen. Die Durchsicht der vielen, vielen kleinen bunten Zettelchen macht mir immer wieder bewusst, wie gut ich es trotz – und manchmal auch wegen – Corona habe. Auch wenn der Silvestertag echt schwer für mich war: Ich habe erkannt, wie wichtig mir meine Rituale sind, zu denen auch meine Lieblingsmenschen gehören. Ich hoffe, dass ich diese am Ende des Jahres mit einem breiten Grinsen im Gesicht wieder zelebrieren darf. Und wenn uns Corona erneut daran hindern sollte, so ist mir bewusst geworden, dass ich selbst dafür verantwortlich bin, mir neue Silvesterrituale zu schaffen. Ich habe ja jetzt ein Jahr lang Zeit, mir einen schönen Plan B zurecht zu legen, den ich dann hoffentlich nicht brauchen werde. 🙂

Es grüßt Sie herzlich Yvonne Michel

 

Textquellen: https://m.geo.de/wissen/22345-rtkl-familienleben-der-sinn-des-immergleichen-warum-rituale-so-wichtig-sind (abgerufen am 12.01.20219; https://karrierebibel.de/rituale/ (abgerufen am 12.01.2021)

Photo by Alexander Kagan on Unsplash
Yvonne Michel

Ansprechpartnerin

Yvonne Michel

Einrichtungsleitung, Fachkraft für betriebliche Suchtprävention

Telefon: 0241-41356130

E-Mail: y.michel@caritas-aachen.de

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